Erfahrungsberichte

Warum wird es Opfern einer Vergewaltigung selbst im Prozess noch schwer gemacht?

Eine Vergewaltigung hinterlässt tiefe Spuren in der Seele. Den meisten Opfern fällt es schwer, überhaupt darüber zu sprechen. Elisa, Anna und Melanie sind drei Frauen, die den Mut dazu hatten und vor Gericht ausgesagt haben. Doch dieser Weg war kein leichter.

Elisa. Anna. Melanie. Alle drei Frauen haben Missbrauch oder Vergewaltigung erlebt. Und sie hatten den Mut, den Mann anzuzeigen, der das getan hat. Doch was sie dann vor Gericht erleben mussten, hinterlässt weitere Spuren eines ohnehin schweren Schicksals. "Kurz nachdem die Richterin angefangen hat mit mir zu sprechen, habe ich gemerkt, dass sie gegen mich ist. Dass sie schon ein Urteil über mich gefällt hat", sagt Anna. "Und egal wie viele Beweise man hat, egal wie sicher man sich ist - im Prinzip kommt es darauf an, wer da vorne sitzt. Das macht einen tatsächlich machtlos. Man kann nicht drauf vertrauen." Und auch Elisa hat die Anzeige ihres Missbrauchs schwer mitgenommen. Sie sagt: "Man erlebt immer wieder: Verdammt, ich bin hilflos und kann mich nicht wehren. Und das ist erneut traumatisierend."

Bei Elisa hat es nach ihrer Anzeige fast fünf Jahre gedauert, bis das Verfahren eröffnet wurde. Sie wurde in der Kindheit von einem Mann missbraucht. Mit 18 beschloss sie, ihn anzuzeigen. Der Täter war ein enger Freund der Familie, der der damals 7-jährigen Elisa Blindschleichen zeigte oder mit ihr Baumhäuser baute. Sie vertraute ihm voll und ganz. Im Auto habe er sie dann  auf seinem Schoß sitzen und lenken lassen. "Und dann fing das irgendwann an, dass er währenddessen mit seiner Hand übergriffig wurde. Mit der Zeit hat sich das immer weiter gesteigert, was er da gemacht hat. Das wurde so zu einem ritualisierten Verhalten – dass irgendwas passierte, das ich nicht wirklich einordnen konnte", berichtet die heute 27-Jährige. Elisa sprach mit niemandem über die Erlebnisse. Bis sich 14 Jahre später herausstellte, dass ihrer jüngeren Schwester das Gleiche passiert ist. Die Schwestern entschlossen sich gemeinsam zu einer Anzeige. Der Tatvorwurf: Schwerer sexueller Missbrauch. Davor wollen sie andere schützen, denn der Mann habe sich auch anderen Kindern immer wieder genähert.

Frauen wird davon abgeraten, sich vor dem Prozess in Therapie zu begeben

Zwei Schwestern, zwei Zeugenaussagen. Eigentlich eine klare Ausgangslage. Doch nach ihrer Anzeige hörten die beiden monatelang nichts mehr davon. Es vergingen fast fünf Jahre, ohne dass es zum Prozess kam. "Das liegt einfach an der Überlastung der Gerichte. Und das ist eine schwierige Situation für Betroffene", sagt Elisas Anwältin Claudia Willger.

Dass es bis zu einem Prozesstermin oft mehrere Jahre dauert, ist längst die Regel. Und auch, dass der Täter so lange nicht in U-Haft sitzt, sondern frei ist. Die langen Wartezeiten wirken sich häufig mildernd auf dessen Strafe aus. Für die Frauen hingegen ist das schwer auszuhalten – es wird ihnen in dieser Zeit sogar abgeraten eine Traumatherapie machen, damit sich ihre Erinnerungen als Zeugin nicht "verfälschen". Zurück bleibt bei ihnen das Gefühl, so lange in der Opferrolle stecken zu bleiben. "Das finde ich das allergrößte Problem und das ist nach wie vor ungelöst", sagt die Expertin für Psychotraumatologie Dr. Julia Schellong vom Uniklinikum Dresden.

"Das Plädoyer des Strafverteidigers hat mich fertig gemacht"

In Melanies Fall fiel das Urteil erst im Januar: Der Vergewaltiger bekam zwei Jahre auf Bewährung. Er hat die Tat aber immerhin gestanden – für Melanie viel wichtiger, als das Strafmaß. "Denn was bringt es mir, wenn er in Haft sitzt und das Umfeld oder Öffentlichkeit denkt: Vielleicht sagt sie doch nicht Wahrheit", so die 32-Jährige.

Melanie wurde als 18-Jährige von ihrem Fahrlehrer vergewaltigt. Er hatte sie nach bestandener Prüfung zu sich auf einen Drink eingeladen. "Auf einmal merkte ich, wie die Stimmung kippte. Er hat dann eine CD reingetan und gesagt 'Ich will doch nur spielen.' Das war für mich schon unheilvoll und ich hab gemerkt: Es stimmt irgendwas nicht mit mir. Ich war wie in Watte gepackt. Ich konnte nicht mehr laufen. Und das Schlimme war, ich konnte mich nicht wehren. Ich war dem dann ausgesetzt." Jahre später würden Ermittler vom Einsatz von K.o.-Tropfen ausgehen – doch Melanie erzählte zunächst nichts von dem Vorfall. Ihre Erinnerungen waren lückenhaft. Als ihre jüngere Schwester ihren Führerschein bei der gleichen Fahrschule machen wollte, entschied sich Melanie zur Anzeige.

Der Prozess begann anderthalb Jahre später. Eigentlich lief es für Melanie gut: Der Angeklagte verstrickte sich in Widersprüche und es gab eine weitere Zeugin, die ihn belastete. Dann folgte das Plädoyer des Strafverteidigers. "Dieses Plädoyer ging über eine Stunde und darin hat er mich fertiggemacht", erzählt Melanie. "Der Verteidiger hat gesagt, dass sein Mandant seit Monaten nicht mehr richtig schlafen könne. Ich sei eine Lügnerin, wolle sein Leben zerstören, seine Existenz zerstören." Diese Plädoyers seien für viele Opfer – und seien sie noch so gefestigt – eine große Verletzung, so Melanies Anwältin Marion Zech. Der Fahrlehrer gestand letztlich die Tat und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.

Vorverurteilungen und mangelnde Sachlichkeit rücken Opfer in schlechtes Licht

Auch Anna erlebte, wie sie als Opfer ins schlechte Licht gerückt wurde. Der Angeklagte wurde letztes Jahr von einem Richter am Landgericht verurteilt. Der erste Prozess jedoch endete mit einem Freispruch. Man habe ihr schlicht nicht geglaubt, sagt Anna: "Die Richterin hatte wohl schon ein Urteil über mich gefällt: Warum ich denn überhaupt liegen geblieben wäre, ich hätte ja sofort aufstehen können. Warum ich nicht sofort zur Polizei gegangen bin? Dass sie das anders gemacht hätte. Das hat sie mir alles um die Ohren gehauen."

Für Anna war das schwer auszuhalten – die Anzeige war ihr nicht leicht gefallen, denn der Täter stammt aus dem engen Freundeskreis. Vor Gericht stand es Aussage gegen Aussage. Doch es gab Textnachrichten aus den Tagen danach zwischen den beiden, die Annas Aussage stützten. Die Richterin hatte sich diese Beweise allerdings gar nicht angesehen. "Die Richterin hat das Verhalten meiner Klientin immer wieder bewertet, indem sie gesagt hat: 'Das hätte ich nicht getan'.", sagt Miriam Harosh-Pätsch von der Beratungsstelle frauen e.V. "Und damit hat sie auch ihre Schöffinnen beeinflusst, eigentlich hat sie den ganzen Verlauf des Prozesses geprägt, weil sie nicht sachlich war."

Angst vor den Prozessen lässt die meisten vor einer Anzeige zurückschrecken

Ob jahrelange Gerichtsverfahren, verbreitete Mythen darüber, wie sich Vergewaltigungsopfer in der Situation doch hätten verhalten sollen oder Zermürbungstaktiken der Strafverteidiger auf Seiten des Täters - den Frauen wird es nicht leicht gemacht, all dies durchzustehen. Eine EU-Studie hat ergeben, dass nur jede sechste Betroffene den Täter überhaupt anzeigt. Viele haben Angst vor dem Prozess, Sorge davor, aussagen zu müssen, oder sind schlicht zu traumatisiert, um die Tat noch einmal nacherzählen zu können. Dabei wollen die meisten, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird. Doch das gestaltet sich im deutschen System als äußerst schwierig. Elisa, Anna und Melanie haben sich dennoch dazu entschieden – und alle drei ein Urteil erwirkt, das ihnen Recht gibt. Der Weg dahin war allerdings kein leichter.