Fixpunkt der Corona-Politik

Wie aussagekräftig ist der Inzidenzwert?

Wissenschaftler kritisieren, dass politische Entscheidungen derzeit vor allem von Inzidenzzahlen abhängig gemacht werden. Warum die Aussagekraft des Inzidenzwerts begrenzt ist und welche Alternativen es gibt.

Er entscheidet über Lockerungen und Schließungen und ist zum wichtigsten Richtwert der Corona-Politik geworden: der Inzidenzwert. Immer wieder werden jedoch Stimmen aus Politik und Wissenschaft laut, die die alleinige Orientierung an der Sieben-Tage-Inzidenz kritisieren. Sie sei nicht aussagekräftig genug, um politische Entscheidungen allein von ihr abhängig zu machen. Es müssten auch andere Faktoren in die Bewertung des Pandemiegeschehens einbezogen werden.

Fehlende Vergleichbarkeit

Eine Forschergruppe des Statistischen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München hat in aktuellen Berichten zum Infektionsgeschehen die Schwächen des Inzidenzwerts aufgezeigt. Eine davon sei die fehlende Vergleichbarkeit: Die Sieben-Tage-Inzidenz gebe an, wie viele Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche gemeldet werden, berücksichtige aber nicht die Anzahl der durchgeführten Tests. Je mehr getestet werde, desto mehr Infektionen würden auch entdeckt – das lässt den Inzidenzwert steigen.

„Eine Inzidenzzahl von heute ist nicht mit einer Inzidenzzahl von November vergleichbar“, erklärt Professor Göran Kauermann, Dekan des Statistischen Instituts der Uni München. „Wir haben zwei unterschiedliche Aufklärungsquoten und wir haben unterschiedliche Dunkelziffern. Wir haben auch unterschiedliche Alterskohorten, die betroffen sind.“ Derzeit treten Infektionen vermehrt in jüngeren Altersgruppen auf. Diese haben laut Bericht der Münchener Forscher jedoch keine Auswirkungen auf die Infektionszahlen in anderen Altersgruppen.

Viele Faktoren bleiben unberücksichtigt

Dass fast ausschließlich die Gesamtinzidenz betrachtet wird, ohne dabei die Altersstruktur der Infizierten zu berücksichtigen, sehen die Forscher deshalb kritisch – auch weil Infektionen bei Menschen unterschiedlichen Alters unterschiedlich häufig zu schweren Krankheitsverläufen führten. Insofern sei der Inzidenzwert „nur bedingt geeignet, das aktuelle Infektionsgeschehen auch in Bezug auf schwer verlaufende Fälle wiederzugeben“. Asymptomatische Fälle werden bei der Inzidenz genauso gezählt wie hospitalisierte Fälle.

Auch die Sterblichkeitsrate und die Impfquote fließen nicht mit in die Sieben-Tage-Inzidenz ein. Zudem kommt es bei der Meldung von Daten häufig zu einem Verzug, weil an Wochenenden und Feiertagen weniger getestet wird und es in vielen Gesundheitsämtern noch an der nötigen digitalen Infrastruktur fehlt.

Alternativen zum Inzidenzwert

Doch welche Alternativen zum Inzidenzwert gibt es? Gemeinsam mit dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung haben die Statistiker der LMU an einer möglichen Lösung gearbeitet. „Wir schlagen vor, dass man sich die Neuaufnahmen auf den Intensivstationen anschaut, weil diese letztendlich vom Testgeschehen losgelöst sind“, so Professor Kauermann. Dafür hat die Forschergruppe eine eigene Formel entwickelt, mit der ein Schwellenwert berechnet werden kann, ab dem die Politik handeln sollte.

„Letztendlich kommt es aus unserer Sicht darauf an, sich zu überlegen, was im Moment die problematische Größe ist. Während im November und Dezember vielleicht die Sterblichkeit im Vordergrund stand, sind es im Moment eher die Intensivbetten“, so der Statistik-Professor. In jedem Fall sei es wichtig, verschiedene Größen des Pandemiegeschehens zu berücksichtigen: „Das Festhalten und Formulieren von verpflichtenden Maßnahmen anhand einer einzigen Größe ist aus unserer Sicht sehr einschränkend, daher würden wir davon dringend abraten.“

Die Vor- und Nachteile des Inzidenzwerts auf einen Blick

Die Nachteile:

1. Fehlende Vergleichbarkeit: Je mehr getestet wird, desto höher die Inzidenz.
2. Die Inzidenz sagt nichts über die Schwere der Krankheitsverläufe aus.
3. Die Impfquote wird beim Inzidenzwert nicht berücksichtigt.
4. Meldeverzug: Am Wochenende und zu Feiertagen wird weniger getestet.

Die Vorteile:

1. Stecken sich mehr Menschen an, ist die steigende Inzidenz der erste Indikator.
2. Auch wer keinen schlimmen Verlauf hat, kann andere Menschen anstecken.
3. Die Kontaktnachverfolgung funktioniert nur bis zu einer gewissen Inzidenz.