Mit dem Hashtag #Lichtan gegen das Dunkelfeld

Sexualisierte Gewalt: 23 Frauen brechen das Schweigen

stern TV hat 23 Frauen getroffen, die offen von ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichten.

Sie sind zwischen 20 und 70 Jahre alt und haben eines gemeinsam: Sie alle sagen, dass sie sexualisierte Gewalt erfahren haben. Um anderen Betroffenen Mut zu machen, brechen 23 Frauen gemeinsam ihr Schweigen und erzählen bei stern TV von ihren Erfahrungen.

Etwa 15.000 Kinder werden laut Bundeskriminalamt jährlich sexuell missbraucht, rund 75 Prozent davon sind weiblich. Zusätzlich werden etwa 9.000 Frauen Opfer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Trotzdem ist das Thema noch immer schambehaftet, vielfach existieren falsche Vorstellungen darüber, wie und wo sexualisierte Gewalt stattfindet.

Der Täter kommt oft aus dem persönlichen Umfeld

„Wir sind ganz normale Menschen und wir wohnen in deiner Nachbarschaft. Uns ist das passiert. Das passiert nicht nur in sozial schwachen Familien. Das passiert überall und jeden Tag, an jedem Ort“. Regina war sechs Jahre alt, als ihr Vater sie das erste Mal missbrauchte, sagt sie. Auch später habe sie in ihren Partnerschaften immer wieder sexualisierte Gewalt erlebt, so die 68-Jährige.

So wie Regina geht es vielen betroffenen Frauen: Die Täter sind ihnen häufig nicht fremd, sondern kommen aus dem direkten persönlichen Umfeld. Meist handelt es sich um Vertrauenspersonen wie Vater, Mutter, Bruder, Onkel, Großvater oder den Partner.

Mehr als die Hälfte der 23 Frauen sagt zudem, dass es mehrere Täter gegeben habe. Und auch das kommt nicht selten vor: Laut einer Studie des Familienministeriums sind Frauen, die in ihrer Kindheit Gewalt erfahren haben, später vier Mal so häufig von Gewalt in der Partnerschaft betroffen.

Betroffene geben sich häufig selbst die Schuld

Viele betroffene Frauen sagen, dass sie die sexualisierte Gewalt als „normal“ und als „Teil des Alltags“ wahrgenommen haben. Sie empfinden zudem oft Scham, fühlen sich schuldig: „Ich habe immer gedacht, ich bin schuld und habe das verdient. Ich habe mich schmutzig gefühlt“, erzählt etwa die 54-jährige Tamara.

Das Einreden von Schuldgefühlen gehört neben Einschüchterungen und Bestechungen häufig zur Strategie der Täter. Diese Erfahrung hat auch Carina gemacht: „Ich habe meinen Großvater gefragt, warum er das macht und er hat geantwortet: ‚Ich kann ja nichts dafür, dass du so hübsch bist.‘ Er hat mir quasi signalisiert, dass ich schuld bin, weil er mich so schön findet“, so die 31-Jährige.

Das Erlebte hat für viele Frauen schwerwiegende Folgen

Die Folgen sexualisierter Gewalt sind für die meisten der 23 Frauen noch heute jeden Tag spürbar. Sie leiden zum Teil unter Panikattacken, Angststörungen, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen. Mehrere von ihnen haben Schwierigkeiten in Beziehungen und sind aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme nicht in der Lage zu arbeiten oder zumindest eingeschränkt.

Der lange Weg bis zur Verurteilung der Täter

In vielen Fällen haben die betroffenen Frauen keine Hilfe aus ihrem Umfeld erhalten, obwohl sie sagen, dass Außenstehende etwas hätten bemerken können. Dass die Täter oft aus dem engsten familiären Umfeld kommen, macht es den Betroffenen zudem besonders schwer, die Taten zur Anzeige zu bringen.

Nur neun der 23 Frauen haben Anzeige erstattet – und das sind bereits überdurchschnittlich viele. Laut aktuellen Studien gehen nur fünf bis acht Prozent der Betroffenen zur Polizei. Denn bis zur Verurteilung des Täters kann es ein langer Weg sein, im Laufe des Verfahrens müssen Betroffene häufig belastende Fragen beantworten.

So erging es auch der 30-jährigen Anna, als sie eine Anzeige wegen Vergewaltigung aufgab. „Ich saß da und hab mich gefühlt, als wäre ich die Beschuldigte. Ich musste genau sagen, was ich anhatte, was ich für Unterwäsche anhatte, ob ich Gefühle für den Täter hatte, eifersüchtig wäre, welche sexuelle Orientierung ich habe.“

Solidarität und neuer Mut

Dennoch möchten Frauen wie die 37-jährige Nina andere Betroffene ermutigen, diesen Schritt ebenfalls zu gehen: „Ich würde trotzdem alle dazu ermuntern, wenn sie die Kraft haben, dass sie so lange kämpfen wie es irgendwie geht. Sonst können wir dieses riesige Dunkelfeld nie klein kriegen.“

Indem die Frauen gemeinsam ihr Schweigen brechen, möchten sie anderen Betroffenen Mut machen und ihnen das Gefühl geben, nicht allein zu sein. „Seitdem ich darüber reden kann, ist alles ein bisschen einfacher“, erzählt die 63-jährige Elke.

Mit dem Hashtag #Lichtan möchten sie das Thema in der Öffentlichkeit sichtbarer machen. Sich solidarisch zeigen und gegenseitig Mut zusprechen, das ist auch der 41-jährigen Susanne wichtig: „Es gibt einen Weg raus. Er kann dauern, er kann schwer sein, aber man kann es schaffen.“

 

Hilfsangebote

  • Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet unter der Nummer 08000 116 016 rund um die Uhr kostenlose und anonyme Hilfe und Unterstützung für Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Aber auch Verwandte, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte können sich hier beraten lassen.
  • Das Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“ ist kostenfrei und anonym unter der Nummer 0800-22 55 530 zu erreichen. Die telefonischen Sprechzeiten sind montags, mittwochs und freitags von 9 bis 14 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 15 bis 20 Uhr. Das Hilfetelefon bietet Hilfe und Beratung für Betroffene, für Fachkräfte, für besorgte Menschen aus dem sozialen Umfeld und für Kinder und Jugendliche.
  • Das Hilfeportal Sexueller Missbrauch ist ein Hilfsangebot für Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erlitten haben. Betroffene und Angehörige können hier nach Beratungsstellen und Therapieangeboten in ihrer Nähe suchen und erhalten unter anderem Informationen zu rechtlichen Themen.

Das „Handbuch Häusliche Gewalt“

Dr. med. Melanie Büttner ist Sexualtherapeutin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Seit 2007 arbeitet sie mit Betroffenen sexualisierter Gewalt und hat ihre Doktorarbeit zu dem Thema geschrieben. Heute betreut sie die Sexualsprechstunde am Münchener Uniklinikum rechts der Isar und arbeitet in eigener Praxis.

2020 hat sie das „Handbuch Häusliche Gewalt“ herausgegeben, ein Nachschlage- und Standardwerk für alle Berufsgruppen, die mit häuslicher Gewalt in Berührung kommen.